Rede auf der Veranstaltung „Für ein weltoffenes Berlin“ auf dem Platz des 18. März vor dem Brandenburger Tor am 7. November 2015:
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Wir wollen hier und heute ein Zeichen setzen. Deutlich und unübersehbar. Für Menschlichkeit und Toleranz. Für ein weltoffenes Berlin. Darum ist es gut, dass wir alle so zahlreich gekommen sind.
Wir stehen hier gemeinsam – davon bin ich fest überzeugt – für die große Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner und aller, die friedlich und in gegenseitigem Respekt in Berlin leben wollen. Es geht heute nicht um Forderungen einer bestimmten Interessengruppe an die Repräsentanten dieser Stadt. Wir wollen heute als Bürgerinnen und Bürger ein Zeichen für uns selber, ein Zeichen für unser Berlin, setzen. Ein Zeichen aber auch für alle Freunde Berlins in der Welt, die sich – wie wir – Sorgen machen über Verzagtheit, Angst, Hass und teilweise Gewalt im Zusammenhang mit geflüchteten Menschen in unserer Stadt machen.
Wir stehen heute am 7. November hier vor dem Brandenburger Tor. Dieses Tor steht für viele Stunden in unserer Geschichte, für dunkle und für helle. Und übermorgen jährt sich mit dem 9. November ein ebenso vielschichtiges Datum unserer Geschichte. Beide erinnern uns alle daran, dass unsere Gesellschaft mit aller Macht die Freiheit, die Unverletzlichkeit und die Würde eines jeden Menschen sichern muss. Und das sie darauf angewiesen ist, dass wir uns als Bürger engagieren. Beide zeigen uns aber auch, dass Freiheit, Toleranz und Menschenwürde stärker als Ausgrenzung, Unterdrückung, Hass und Gewalt sind. Seit den Tagen der friedlichen Revolution 1989/90 ist dieser Ort zu einem Platz für Bürgermut und Weltoffenheit geworden, zu einem Symbol für das neue, moderne, weltoffene Berlin – und das soll er auch bleiben.
Das Brandenburger Tor steht auch für die innere Einheit Deutschlands. Einigkeit und Recht und Freiheit – diese Grundwerte unseres Landes können im Alltag immer wieder nur aufs Neue erwachsen, wenn wir in Respekt vor denselben Grundüberzeugungen friedlich miteinander leben wollen. Nun wo viele Flüchtlinge angesichts von Krieg, Gewalt und existenzieller Not nach Europa, nach Deutschland und auch nach Berlin kommen, müssen wir den gesellschaftlichen Zusammenhang und unsere innere Einheit wahren und verteidigen.
Angst und Verzagtheit sind dabei schlechte Ratgeber. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zeugen nur von eigener Schwäche. Angst lähmt den Erfindergeist, den Mut zum Anpacken, die Hoffnung, mit den Problemen fertigzuwerden. Angst verführt zu dem Reflex, alles Bestehende erhalten zu wollen, koste es was es wolle. Eine von Ängsten erfüllte Gesellschaft wird unfähig zu Veränderungen und damit zur Gestaltung der Zukunft. Unser deutsches Wort „Angst“ ist als Symbol dieser Befindlichkeit in den Sprachschatz der Amerikaner und Franzosen eingeflossen. Ich wünsche mir, dass die deutschen Wörter „Mut“ oder „Selbstvertrauen“ ebenfalls als Symbole in andere Sprache einfließen.
In dieser Zeit kommt den gesellschaftlichen Vorbildern und politischen Repräsentanten eine ganz besondere Bedeutung zu. In einer Zeit, in der die Menschen durch die großen Umbrüche ohnehin verunsichert sind. In einer Zeit, in der der Verlust von eigenem Erfahrungswissen durch äußere Orientierung ersetzt wird. In dieser Zeit sind Zurückhaltung und Vorsicht gefordert: auch Worte können verletzen und Gemeinschaft zerstören. Respekt und Anstand beginnen mit der Sprache. Gewaltsame Worte können auch gewaltsame Taten hervorrufen. Alle, deren Stimme in der Öffentlichkeit gehört wird, müssen achten auf das, was sie sagen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Diskussionen bei uns bis zur Unkenntlichkeit verzerrt werden – teils ideologisiert, teils einfach „idiotisiert“ werden.
Ganz gewiss müssen wir vor allem als Politiker die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen. Wir müssen auch die Folgen der gegenwärtigen Notaufnahme von Flüchtlingen offen und ehrlich ansprechen. Ja, die Situation in der Stadt hat sich verändert: Turnhallen stehen für den Schulsport nicht zur Verfügung; Grünanlagen und öffentliche Einrichtungen verwandeln sich in Notunterkünfte. Manche Beschwerde kann ich durchaus nachvollziehen. Aber niemand darf diese Sorgen und Ängste schüren. Angstszenarien dürfen wir nicht zulassen. Das können wir uns nicht leisten, schon gar nicht in einer Zeit, in der wir mehr denn je auf Gemeinschaft angewiesen sind.
Wir haben in den vergangenen Wochen viel über unsere deutsche Gesellschaft gelernt. Die Ruhe und Kreativität, mit der die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft auf diese Krise reagiert hat, wie schon zuvor auf andere Herausforderungen, das beweist ein gesundes Selbstvertrauen. Wir dürfen also darauf vertrauen, dass sie auch kommende Prüfungen bestehen wird. Wir dürfen uns nicht der Angst in die Arme werfen.
Migration – ob sie freiwillig oder erzwungen ist – hat es zu allen Zeiten gegeben. Zu oft genug treibt sie der verzweifelte Wunsch, das eigene Leben zu retten. So sehr wir auch wünschten, es wäre anders: Verfolgung, Krieg und Bürgerkrieg sind nicht nur Geschichte, nein, sie sind Gegenwart in der globalisierten Welt. In Zeiten von Internet und Smartphone erleben wir die Folgen unmittelbarer und direkter als früher. Wir begreifen langsam, dass wir eigentlich viel intensiver Fluchtursachen bekämpfen müssen.
Für die aktuellen Aufgaben, das Ausmaß dieser Aufgaben, gibt es keine Vorbilder. So sehr wir Sicherheit und Planungstreue gerade in Deutschland erwarten, so sehr wir uns nach einem Gesamtkonzept sehnen, so müssen wir doch erkennen: Was jetzt gebraucht wird, sind neben Ordnung auch Flexibilität und Phantasie. Es geht jetzt gemeinsam darum, eine Haltung zu fördern, die nicht sagt, warum etwas nicht geht, sondern fragt, warum es eigentlich nicht doch geht. Warum geht es eigentlich nicht doch, die gegenwärtige Herausforderung positiv zu nutzen. Warum geht es eigentlich nicht doch, sie nicht als bedrohlich wahrzunehmen, sondern als Motivation, vielleicht sogar als Bereicherung.
Die Bundeskanzlerin wurde und wird ja gelegentlich für ihre Aussage „Wir schaffen das“ kritisiert. Doch was wäre denn die Alternative? Besinnen wir uns doch lieber auf unsere – viel gerühmten – deutschen Tugenden. Schon Immanuel Kant wusste: Ich kann, weil ich will, was ich muss. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Faktischen, verbunden mit der moralischen Maxime: Handle so, dass Du wollen kannst, dass Dein Handeln allgemeines Gesetz wird. Wenn wir die Ziele wollen, wollen wir auch die Mittel.
Und so sollten wir heute auch den Mut und das Selbstvertrauen feiern, die uns die hellen Stunden der deutschen Geschichte geschenkt haben. Nutzen wir diese Erinnerungen – gerade als Berliner – als Motivation. Konzentrieren wir uns jetzt auf das Machbare, statt uns von Angst oder Übermut treiben zu lassen.
Die Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen war und ist ein starkes Signal gegen Rassismus, Hass und Gewalt. Sie stand und steht für das neue, moderne, offene Deutschland. Sie stand und steht auch für Mut und Selbstvertrauen – von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfern, von Zivilgesellschaft und Staat.
Bei allen Unterschieden zwischen uns hier auf diesem Platz, bei allen politischen Differenzen auch zwischen denen, die zu dieser Demonstration aufgerufen haben:
Wir stehen und wir arbeiten gemeinsam für ein weltoffenes Berlin.
Wir stehen für ein Berlin, in dem niemand Angst haben muss, ganz gleich, wie er aussieht, ganz gleich, wo er herkommt, ganz gleich, was er glaubt, ganz gleich, wie stark oder wie schwach er ist.
Wir stehen für ein Berlin, in dem wir alle zusammen gerne, frei und sicher leben können.
Wir stehen für ein Berlin, in dem wir ohne Angst verschieden sein können.
Wir stehen hier heute aus Liebe für unser weltoffenes Berlin.